Von der Eröffnung der Ausstellung »Weihnachten
2000«
16. November 2000, 19:00, Galerie der
Stadt Sindelfingen
Eröffnungsrede
von Dr. Ingrid Burgbacher-Krupka Der Titel dieser Ausstellung
'Weihnachten 2000' hat schon im Vorfeld verschiedentlich zu Diskussionen
geführt. Wie es an diesem Ort, nämlich in Sindelfingen, und zu dieser
Zeit, nämlich Weihnachten, zu dieser
Ausstellung gekommen ist und was den Ausschlag gab, ist schnell
erzählt. Letzten Winter klingelte es plötzlich
an unserer Tür und eine Kinderstimme fragte: "Du haben
Karotte", und als ich aus dem Fenster schaute stand da ein
riesengroßer Schneemann. Ein fröhlicher Gesell, mit lachendem Mund und
kecken Augenbrauen dem einzig noch die Nase fehlte. Als ich dann die Tür
aufmachte wiederholte sich, jetzt aus anderen Munden in weniger
gebrochenem Deutsch aber mit unüberhörbar fremdländischen Akzenten
der Wunsch nach der Karottennase. Ich stiftete die Nase und flugs kam
die nächste Frage: "Du machen Bild von uns"? und
herausfordernd gruppierte sich die Kinderschar, professionell, vorne
gekniet, Kopf rechts, Kopf links, groß, klein um den Schneemann.
Wahrscheinlich ziert dieses Bild seither irgendwo in
Südosteuropa und Kleinasien die Behausung der Daheimgebliebenen. Weihnachten, Jehwlazeit, die Zeit der
Schneegestöber, ist dem ur-nordischen entlehnt und deutet auf ein Fest,
dass die Germanen schon in vorchristlicher Zeit Mitwinters feierten und
erstaunlich, das mit den 'matronae oder matres genannten Göttinnen' in
Verbindung gebracht wurde und so auch den Namen 'Mutternacht' trug:
"daher das fest die weihnachten mit sinnen und d' mutter nacht
wirdt gesprochen". Hier wurzeln sichtlich auch die häuslichen
Volksbräuche und Kinderträume, die das Wort 'Weihnachten' mit wärmstem
Gefühlston begleiten: "[...] eine warme Insel, ein geheimnisvolles
Schloss auf hohem Berge, ein Ziel, das man lange vor sich sieht, zu dem
man absteigend, lange zurückblickt" [F. Huch]. Nun, Weihnachten 2000 liegt vor
uns, lassen Sie uns feiern. Zusammen mit den Künstlern dieser
Ausstellung, die uns auf so unterschiedliche Weise kraft ihrer
Imagination in Atem halten. Ja, sich wundern , wie Alberto Simon, als er
1997 den Kometen Hale-Bopp am Himmel verfolgte: "wie konnte man nur
ein Flugzeug nach Himmelskörpern benennen" – der
Flugzeughersteller de Haviland hatte seinen ersten Jet COMET getauft –, nach Himmelskörpern,
"die für ihre exzentrischen Bahnen und langen Perioden des
Verschwindens bekannt sind? Hat vielleicht eine Art Namensmagie den
Ingenieuren ins Handwerk gepfuscht?" Die ersten Jets fielen vom
Himmel. Die Fakten liegen auf der Hand;
Simon hat sie dokumentiert und in fiktiven Bildern dramatisiert. Die
malerischen Vorstellungen, Fiktionalisierungen sind vielfältig, wie Sie
in der Ausstellung sehen können, sie spielen mit der Bildsprache der
Kunst – es gibt z.B. einen herrlichen
Matisse-Stern –, und sie spielen an auf die Werbeästhetik der
50er-Jahre, als für den uralten Traum vom Fliegen
mit der Comet euphorisch ein neues Zeitalter begann das dann für
die Comet jäh endete. Was mich besonders beeindruckt, sind die
methodische Klarheit und poetische Kraft, die ohne laut sensationell zu
werden die Unruhe und Abgründigkeit der Geschichte wach hält. So
bleibt das Flugzeug als Motiv immer intakt, wird niemals bei der
Explosion repräsentiert, während Worte und Bild frakmentiert sind,
Textteile abbrechen, ins Nichts stürzen. Die Comet stellt sich als Ikone dar und
Alberto Simon läßt sie zerfallen in eine Vielzahl von Fakten und
Fiktionen. Auch Wang Fu arbeitet mit ikonischen Bildern, die sein
Interesse an der Pop-Art deutlich machen. 'Pop and after', das war kürzlich
meine Frage an dich Wang Fu. Der Alltag wartet mit Bildern auf: sie sind
da, jeder kennt sie, wie die Coca-Flasche. Andy Warhol nahm sie, machte
sie so wie sie war zum Bild. Die Coca-Flasche ist seither Bildikone
in einer Gesellschaft, in der die Vision von Freiheit gelebt wird:
ich trinke Coke, du trinkst Coke, Madonna trinkt Coke und Coke
trinkend bin ich in der Vorstellung
tatsächlich der Star – erfolgreich und berühmt. Diesen
direkten Zugriff auf Bild und Gesellschaft praktiziert auch Wang Fu. In
'Unter den Sternen', so der Titel seiner Arbeit, schläft das Kind in
seinem Bettchen, wie es kleine Kinder so tun: die Augen geschlossen, mit
leicht offenem Mund, gewiegt in die Träume, die der Künstler ihm auf
die Bettdecke gemalt hat. Aufgereiht heben sich die Schlaffstätten wie
schwebend vom Boden. Diese unmittelbare Darstellung, so denke ich, zeigt
die Haltung von Pop. Wang Fu sagt zu seiner Arbeit: "das ist eine
andere Art von Philosophie. Das ist eine einfache Art von
Lebensphilosophie." Die Arbeit im angrenzenden Raum
'The lazy gay', dieses merkwürdige Blatt zum Englischlernen,
konfrontiert mit den Bruchstücken einer Tonfigur, läßt nun allerdings
noch eine andere Haltung erkennen, ambivalent, witzig, unerklärlich:
die Dramatisierung des Dokumentarischen. Auf dem Weg zum Dokudrama,
denke ich, trifft Wang auf Alberto Simon, auch wenn die ästhetischen
Vorstellungen beider Künstler sehr unterschiedlich sind. Wang Fu trägt
vor seinem inneren Auge die Bilder einer Kultur mit, die auch in der
Transformation auf die westliche Kultur – aus der ich/wir hier im Saal
intuitiv assoziieren – in ihrem ikonischen Gehalt fremd sind. Vorsicht
ist mit unserer Vorstellung von Kitsch geboten, wiewohl Wang Fu gerade
mit derartigen Klischee-Vorstellungen humorvoll umgeht.
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Die Migration, der Wechsel von einer
Kultur in die andere, den die Künstler dieser Ausstellung
gemein haben, allerdings auf sehr unter- schiedliche Weise, sowie
ihre unterschiedlichen Mentalitäten bringt den Begriff Heimat
(Bewusstseinsprozess) ins Spiel. Womit indirekt der Titel der
Ausstellung 'Weihnachten 2000' noch auf andere Weise anklingt. Die
Kirche hat das vorchristliche Weihnachten umgeprägt, indem sie den
germanischen Festzauber mit höchster kirchlicher Weihe ausstattete. Und
es lag ganz auf der Linie kirchlicher Symbolik, den Geburtstag des
unbesiegten Sonnengottes Mithras auf Christus umzudeuten: mit
Weihnachten, also Christi Geburt nimmt der Tag zu und die Nacht (des
Unglaubens) ab. Daß wir auf einer programmatischen
Ausstellung zum Thema Weihnachten nicht aufbauen, denke ich, wird damit
klarer: es heißt, den ideologischen und christlichen Rahmen des
Glaubens auszuklammern, um die Kunst nicht auf
Glaubenskriterien und Zitate zur christlichen Weihnacht
festzulegen, mehr noch, zu reduzieren. Ihre künstlerische, ja spirituelle
Kraft bezieht die Ausstellung dadurch, dass neben den bereits
angesprochenen Künstlern, die ausgehend von der bildlichen Stärke der
Dinge, Orte und Szenarien eine vielschichtige Bilderwelt entwickeln,
andere Künstler ihre inspirative Kraft aus den Denkstrukturen einer
geschichtlichen Welt beziehen. So inszeniert Satoshi Hirose in seiner
Arbeit Stardust den Museumsort Sindelfingen als geschichtlichen Ort im
Spannungsfeld zwischen Mikro- und Makrokosmos: Schritte über
Sindelfingen, durch die Kontinente, ins Weltall hinauf. Hirose ist
zum Pendler zwischen mehreren
Kulturen, ja Heimatkulturen geworden, die seine Sensibilität
ganz besonders für die Transmutation von Identität geschärft haben.
Seinem Installationsplan, der einen Weg durch die gesamte Galerie
zeichnet, liegt eine kritische Reflektion zur Ausstellung bei: Regarding
Exhibition ..., die wir in unserer Ausstellungszeitung ungekürzt
abgedruckt haben. Shigeaki Iwai geht der Frage nach
globaler Identität noch radikaler nach als sein Landsmann Hirose,
weniger poetisch, denn mit analytischem Scharfsinn. Angesichts seiner
Installation, in der sich Menschen aus vielen Ländern der Welt mit
ihrem Namen vorstellen und an der wir Betrachter durch Spiegelung
beteiligt werden, möchte ich an meine Eingangsgeschichte mit der
Karottennase erinnern: Sindelfingen ist heute multinational geprägt. Markus Keibel bringt auf akribische
Weise Kunst und Leben zusammen. Das Treppenhaus – als verbindenden Ort
– setzt er kommunikativ in Bewegung. Die dynamischen Linien aus
wenigen Sprachelementen betreffen die Kommunikation in Aktion: zwischen
dir und mir, zum nächsten ... Es gibt Standpunkte aus denen sich alles
zur Idealform des Kreises zusammenschließt, Zeichen für die Idealform
sozialer Prozesse. Der in der Arte Povera, im klassischen
Italien gebildete Gianni Caravaggio vertritt in diesem Kreis globaler
Begegnung wohl am stärksten die abendländische Metaphysik. Im klaren
Gegensatz zur äußeren Welt der ikonischen Bilder, pocht er auf das immer wieder neu zu erschaffende Bild. Sein Begleittext
zur Ausstellung ist mit 'Intuition' überschrieben: Was ist eine Idee?
Wo kommt sie her? Warum und wie schauen wir sie? Was bewirkt sie in uns?
Das Moment der Intuition definiert das Konzept der Idee als Samen des
Realen: ein Ort, der alle Orte in sich trägt. Eine Zeit aller möglichen
Zeiten [...]. Das Ergebnis dieses Denk- und Schauprozesses zeigt eindrücklich
die Naturalisierte Fahne für Sindelfingen 2000. In einem ersten Schritt
hat Gianni die Konturen der Sindelfinger Landschaft gezeichnet, vom Goldberg
aus gesehen, von Maichingen usw., aus unter- schiedlichen Blickwinkeln.
Dabei hat er auch die Farben der Landschaft festgehalten. In einem
zweiten Akt hat er dann Stoffe in den Landschafts- farben nach den
Konturen der Landschaft geschnitten, die Farbtücher geschichtet und zu
der Fahne drapiert, wie sie in der Eingangshalle hängt: als wehende
Fahne, mit der die Vorstellungskraft spielen kann. Die Ausstellung wird begleitet von zwei
Projekträumen im Erdgeschoss, eingerichtet von Hannes Brunner und
seinen Studenten, die in unser zukünftiges Projekt einführen, Titel:
One Site – Two Places. One Site betrifft die Autoindustrie, die den öffentlichen
Raum von Sindelfingen, Gesellschaft
und Verhalten prägt; Two places nimmt den Vergleich auf mit der
Sindelfingen heute so nahe gerückten Autostadt Detroit. One Site –
Two Places, ein Titel der in seinem stimmungsmäßigen Zugriff schwer zu
übersetzen ist.
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